Titel: Bürgermeister Ludwig zum Tod von Franz S. Leichter: „Ohne ihn wäre die Geschichte Wiens ärmer“ =


Datum/Zeit: 06/15/2023 10:25 AM


Meldungstext: OTS077 5 CI 0686 NRK0005 15.Jun 23

Tod/Leichter

Bürgermeister Ludwig zum Tod von Franz S. Leichter: „Ohne ihn wäre
die Geschichte Wiens ärmer“ =

Wien (OTS) - „Sein Tod hat mich zutiefst bewegt und bestürzt“,
reagierte Wiens Bürgermeister Michael Ludwig auf die Nachricht vom
Ableben Franz S. Leichters. „Ohne ihn, ohne seine Familie, wäre die
Geschichte Wiens um einiges ärmer.“ Leichter starb 92-jährig an den
Folgen einer Herzerkrankung in seiner Wahlheimat New York/Manhattan.

„Die Ausnahme-Vita Franz Leichters ist von der Historie seiner
Familie nicht zu trennen“, so Ludwig. „Er wurde als einer der beiden
Söhne von Otto und Käthe Leichter, einer Wiener Pionierin der
Frauenbewegung, geboren. Käthe hatte 1918 bei Max Weber in
Nationalökonomie promoviert und schloss sich schon früh der
Arbeiterbewegung an. Sie wurde wissenschaftliche Mitarbeiterin Otto
Bauers in der Staatskommission für Sozialisierung. In der
Arbeiterkammer baute sie ein eigenes Frauenreferat auf, um gegen
Ungleichbehandlung zu kämpfen. 1921 heiratete sie den Redakteur der
,Arbeiter-Zeitung‘, Otto Leichter. 1930 erschien ihr legendäres
,Handbuch der Frau‘, zwei Jahre später ihre bahnbrechende Studie ,So
leben wir‘ mit Interviews von 130 Industriearbeiterinnen. Während des
Ständestaates gehörten Otto und Käthe Leichter zum engsten Kreis der
Revolutionären Sozialisten, ihre Wohnung wurde zu deren heimlichem
Treffpunkt. Nach dem Anschluss gelang Otto die Flucht vor den Nazis
in die Schweiz, Käthe Leichter wollte vor den Schergen Hitlers nicht
weichen: ,Glaubt ihr, ich laufe vor den Lumpen davon?!‘ 1938 wurde
sie von der Gestapo verhaftet, 1940 ins Frauen-KZ Ravensbrück
verschleppt, wo sie auf Rosa Jochmann traf. 1942 ermordeten die Nazis
sie im Zuge eines Euthanasieprogramms in Bernburg/Saale mit Giftgas.
Otto Leichter war es indes gelungen, mit den Söhnen über Paris,
Vichy-Frankreich und Lissabon 1940 nach New York zu emigrieren.“

Und der Bürgermeister weiter: „Franz Leichter hatte den Sinn für
Gerechtigkeit und den Kampfesmut seiner Mutter ,geerbt‘ und ein Leben
lang hochgehalten. Er besuchte das Swarthmore College und studierte
in Harvard Rechtswissenschaften. Nach Abschluss des Studiums war er
mehr als 50 Jahre als Anwalt tätig, so etwa für das österreichische
Konsulat in New York und das österreichische Kulturinstitut. Als
leidenschaftlicher demokratischer Abgeordneter und später als
langjähriger Senator des Bundesstaates New York profilierte er sich
als einer der Protagonisten der amerikanischen Reformbewegung.“

Michael Ludwig: „In einem mehrseitigen Nachruf würdigte die ,New
York Times‘ Franz Leichter als Pionier der Rechtsreformen: ,He
co-wrote a landmark abortion-rights law‘ – er arbeitete federführend
an einem neuen Abtreibungsgesetz mit. Davor hatten Amerikanerinnen,
die einen Schwangeschaftsabbruch planten, nach Puerto Rico ausweichen
müssen oder – wenn sie nicht vermögend waren – die Abtreibung unter
widrigsten Umständen selbst vorgenommen.“

„Und - ,he pushed for same-sex marriage and legalized marijuana
long before their time‘ – er kämpfte für die gleichgeschlechtliche
Ehe und schon sehr früh für die Legalisierung von Marihuana. Des
Weiteren setzte er sich als Anwalt und maßgeblicher Politiker für den
Konsumentenschutz, für Umweltpolitik, für Wahlreformen, für
Antidiskriminierung und für leistbares Wohnen ein. Er war ein
leidenschaftlicher Gegner der Todesstrafe“, so der Wiener Stadtchef.

Ludwig: „Von Republikanern wurde er angesichts seines
antiautoritären Elans – so nannte er den Senat einmal ,Diktatur‘ und
,Tyrannei einiger Weniger‘ - als ,letzter Beatnik‘ bezeichnet.
Demokraten bedauerten, dass es diesem ,Don Quixote‘ der
amerikanischen Legislative nicht immer gelang, die Windmühlen auf
Anhieb zu erobern.“

Nach seinem Abschied aus dem Parlament in Albany 1998 wurde Franz
Leichter im Jahr 2000 von Präsident Bill Clinton zum Direktor des
Federal Housing Finance Board bestellt.

„Zu Wien verlor Franz Leichter nie den Kontakt“, so Michael
Ludwig, „auch wenn er seine Geburtsstadt stets mit ,gemischten
Gefühlen‘ besuchte. Im Jahr 2009 wurden Franz S. Leichter und sein
Bruder Henry O. Leichter mit der Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt
Wien in Gold gewürdigt. Die Begründung lautete damals: Die beide
Geehrten ,repräsentieren einen wichtigen Teil der Geschichte Wiens
mit all ihren hellen und dunklen Stunden‘. Sie haben sich ,ihrem Wien
stark verbunden gefühlt‘ und ,ganz wesentlich zur Wiederherstellung
des Ansehens Wiens und Österreichs in den USA beigetragen‘.“

„Mein Dank gilt dem Lebenswerk Franz S. Leichters, das von
Menschlichkeit, Respekt vor anderen, dem Drang nach Gerechtigkeit,
Freiheit und dem entschiedenen Eintreten für Schwächere getragen
war“, so der Wiener Bürgermeister. „Mein Mitgefühl gilt den
Hinterbliebenen.“ (Schluss)

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